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Frühe Zulassung innovativer Krebstherapien

Chancen und Risiken der bedingten Zulassung

Zunehmend werden neue Krebstherapien in der klinischen Forschung erprobt. Durch eine bedingte Zulassung können erfolgversprechende Medikamente für Patienten rasch zugänglich werden. Damit einhergehende Unsicherheiten sollten jedoch im Patientengespräch offen kommuniziert werden.

In der Onkologie haben Forscher noch nie so viele neue Substanzen entwickelt wie in den letzten Jahren. Bis belastbare Ergebnisse aus klinischen Studien vorliegen, dauert es oft mehrere Jahre. Oftmals "zu" lange für Patienten mit Krebserkrankungen, für die es sonst keine ausreichend wirksamen Therapien gibt. Die bedingte Zulassung ("conditional approval") soll Krebspatienten aussichtsreiche Therapien frühzeitig verfügbar machen. Die Hersteller müssen dann Daten zur Wirksamkeit und Sicherheit nachliefern. Wie wichtig diese Überprüfung ist, zeigt das Beispiel des Antikörpers Olaratumab bei Sarkomen.

Vor dem Apothekenregal, © I-Viewfinder, Thinkstock
Neue Medikamente sind zunehmend früher verfügbar. © I-Viewfinder, Thinkstock

Bedingte Marktzulassung – Tendenz steigend

Mit der bedingten Marktzulassung (conditional marketing authorisation, CMA) kann ein Arzneimittel in Europa seit 2006 bereits dann zugelassen werden, wenn erste Studiendaten mit positivem Nutzen-Risiko-Verhältnis vorliegen. Ergebnisse zur Wirksamkeit und Sicherheit aus aussagekräftigen Studien müssen allerdings nachgeliefert werden. Die Zulassung ist deshalb befristet. Jährlich wird der Stand von der europäischen Zulassungsbehörde (EMA) überprüft. Liegen entsprechende Studienresultate vor, wandelt die EMA die Zulassung in eine reguläre Zulassung um oder entzieht sie – je nach Datenlage. Infrage kommt eine bedingte Zulassung bei schwerwiegenden Erkrankungen, in Situationen, die die öffentliche Gesundheit bedrohen oder bei seltenen Erkrankungen ("Orphan disease").

Jedes zweite neuartige Krebsmedikament betroffen

Im 10-Jahres-Zeitraum von 2006 – 2016 erhielten 36 Medikamente eine bedingte Zulassung in Europa – 17 davon waren Krebstherapien. Allein 2019 wurden von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) weitere 8 Arzneimittel bedingt zugelassen – darunter 4 Präparate aus der Krebsmedizin. Bei insgesamt 7 zugelassenen neuartigen Krebsmedikamenten im Jahr 2019 liegt damit bei mehr als der Hälfte eine bedingte Zulassung vor.

Regel-Zulassung oder Zulassungs-Entzug: Folgedaten sind entscheidend

Bedingt zugelassene Arzneimittel bekommen eine reguläre Zulassung, sobald die Hersteller verlässliche Studiendaten vorlegen. Fehlen diese Daten, bleibt die Entscheidung offen – manchmal für viele Jahren. Sind die nachträglich erhobenen Daten nicht überzeugend, entzieht die zuständige Behörde die Zulassung wieder. 2019 betraf dies erstmals ein Krebsmittel: den 2016 für Weichteilsarkome bedingt zugelassenen Antikörper Olaratumab.

Beispiel Olaratumab

Der humanisierte Antikörper Olaratumab hemmt Wachstums-Signale in Weichteilsarkomen und soll so das Tumorwachstum verlangsamen. Die Zulassung erfolgte aufgrund erster Studiendaten: Eine kleine randomisierte Phase-II-Studie mit insgesamt 133 Patienten zeigte beträchtliche Vorteile für Olaratumab: Sarkompatienten, die den Antikörper in Kombination mit einer Chemotherapie erhielten, lebten deutlich länger als Patienten mit alleiniger Chemotherapie. Sowohl in den USA als auch in Europa führten diese Daten umgehend zu einer bedingten Zulassung.

Widerruf aufgrund von RCT-Daten: 3 Jahre später lagen Ergebnisse der nachfolgenden großen randomisierten kontrollierten Phase-III-Studie (RCT) mit knapp 500 Patienten vor: Die Kombinationstherapie brachte hier für die Betroffenen keinerlei Vorteile. Die Tumoren schritten im Vergleich zur alleinigen Chemotherapie nicht langsamer voran und die Patienten lebten nicht länger. Und: Nebenwirkungen traten unter der Kombination häufiger auf. Olaratumab wurde daher umgehend vom europäischen und US-amerikanischen Markt genommen. Die EMA entzog dem Antikörper die europäische Zulassung entsprechend der Vorgaben des „conditional approval".

Chancen und Risiken der bedingten Zulassung

Der Wunsch von Patienten und Ärzten, innovative Therapien möglichst früh in der Regelversorgung nutzen zu können, ist verständlich. Er ist jedoch nur schwer vereinbar mit dem Ziel der größtmöglichen Sicherheit und Evidenz: Denn je rascher eine neue Substanz außerhalb klinischer Studien eingesetzt wird, desto begrenzter sind in der Regel die bis dahin vorliegenden Erfahrungen mit dem Medikament.

Der Zeitfaktor

Eine rasche Verfügbarkeit kann insbesondere für Patienten mit schwerwiegenden, lebensbedrohlichen Erkrankungen entscheidend sein: Sie können von einer aussichtsreichen neuen Substanz nicht profitieren, wenn diese erst nach Auswertung längerfristig angelegter großer Studien regulär zugelassen wird.

Bei der bedingten Zulassung dauert es im Mittel etwa 4 Jahre, bis entsprechende Daten vorliegen und das Medikament unbegrenzt zugelassen wird: In einem solchen Fall hilft das "conditional approval" den betroffenen Patienten. Ihre Ärzte konnten sie in diesen Jahren bereits mit dem Medikament behandeln.

Allerdings: Verhält es sich wie im Fall Olaratumab, erhalten Krebspatienten über mehrere Jahre hinweg eine möglicherweise belastende Behandlung, für die Forscher rückwirkend keinen zusätzlichen Nutzen nachweisen können.

Ein weiteres Problem sind Produkte mit wiederholt verlängerter bedingter Zulassung, für die auch nach Jahren noch die geforderten Studiendaten fehlen. Ein möglicher Grund dafür ist, dass Folgestudien nicht genug Studienteilnehmer gewinnen können, solange ein Medikament im Rahmen einer bedingten Zulassung verfügbar ist. Patientinnen und Patienten erhalten damit über viele Jahre Therapien, die nicht abschließend auf ihre Wirksamkeit und Sicherheit geprüft sind.

Der Qualitätsfaktor

Die Vorgaben der regulären Medikamentenzulassung haben das Ziel, die Patienten bestmöglich vor unwirksamen und schädigenden Behandlungen zu schützen. Die Zulassungs-Richtlinien beinhalten daher strenge Qualitätskriterien für die Prüfung in klinischen Studien. Wesentliche Punkte sind hier Patientenzahl, Studiendesign, Studiendauer und patientenrelevante Studienendpunkte.

Ob und unter welchen Voraussetzungen von diesen Qualitätsvorgaben abgewichen werden kann, wird derzeit intensiv und unter den beteiligten Interessengruppen durchaus kontrovers diskutiert. Neben den Zulassungsbehörden sind dies Hersteller, Patientenvertreter, Ärztinnen und Ärzte, Krankenkassen und nicht zuletzt auch die breite Öffentlichkeit.
Patientennutzen hat Priorität: Bei allen Diskussionen um zukünftige Zulassungswege ist wichtig: Der tatsächliche Nutzen für die betroffenen Krebspatienten muss im Vordergrund stehen und mit der maximal möglichen Evidenz belegt sein.

Weitere "Sonderwege" der europäischen Arzneimittel-Zulassung

Zugang zu (noch) nicht zugelassenen Medikamenten

Neben der Teilnahme an einer klinischen Studie gibt es im Einzelfall weitere Möglichkeiten, wie Patienten neue, für ihre Erkrankung noch nicht zugelassene Medikamente erhalten können.

Zu Härtefall-Programmen, Off-Label-Use, Individuellem Heilversuch und Medikamenten-Importen aus dem Ausland finden Sie weitere Informationen beim Krebsinformationsdienst.

Das Projekt "Adaptive Pathways" ("angepassten Pfade") der Europäischen Arzneimittelagentur EMA ist noch in der Entwicklung. Anstelle des aufwändigen Regelverfahrens werden hier verschiedene Anpassungen diskutiert, um Patientinnen und Patienten neue Arzneimittel schneller verfügbar zu machen. Folgende Zulassungswege der EMA sind jedoch bereits seit längerem aktiv:

Zulassung unter besonderen Umständen ("approval under exceptional circumstances"): Zulassungs-Verfahren, wenn die für eine reguläre Zulassung notwendigen Studiendaten nachweislich nicht erhoben werden können. Die Risiko-Nutzen-Balance wird jährlich überprüft. Die reguläre Zulassung ist im Gegensatz zur bedingten Zulassung hier kein erklärtes Ziel.

Beschleunigte Beurteilung ("accelerated assessment"): Der Bewertungsprozess für die Zulassung durch den zuständigen Ausschuss für Humanarzneimittel der EMA, CHMP, wird zeitlich verkürzt. Inhaltlich entsprechen die Voraussetzungen denen der regulären Zulassung.

"PRIME" – Priority medicines: PRIME ist ein seit 2016 etabliertes europäisches Verfahren. Der gesamte Zulassungsprozess eines Medikaments wird von Anfang an eng von der Zulassungsbehörde begleitet. Hersteller können "PRIME" beantragen, wenn die Substanz eine Lücke in der Versorgung schließen kann ("unmet medical need") oder einen klaren therapeutischen Vorteil verspricht. "PRIME" kann beispielsweise mit einer "Beschleunigten Beurteilung" gekoppelt sein.

Orphan Drug-Status (Designation): Orphan Drugs sind Arzneimittel für seltene Erkrankungen. Der Status gibt Herstellern Anreize für die Produktentwicklung, stellt aber keine Zulassung dar. Diese muss, wie für alle anderen Medikamente auch, gesondert beantragt werden.

Fazit für die Praxis

Fehlen aussagekräftige Langzeitdaten zur Sicherheit und Wirksamkeit eines Medikamentes, findet sich in der Packungsbeilage beziehungsweise der Fachinformation eines in Europa zugelassenen Arzneimittels ein auf der Spitze stehendes schwarzes Dreieck. Diese 2013 eingeführte Kennzeichnung zeigt an, dass das Medikament besonders engmaschig von den Regulierungsbehörden überwacht wird ("additional monitoring"). Betroffen sind unter anderem alle seit 2011 in der EU zugelassenen neuartigen Wirkstoffe und biologischen Arzneimittel sowie alle bedingt zugelassenen Medikamente.

Unsicherheiten offen ansprechen

Eine bedingte Zulassung darf nicht dazu verleiten, Sicherheit und Effektivität der Substanz als gegeben anzusehen. Ärzte sollten betroffene Patientinnen und Patienten über offene Punkte informieren, die sich durch die unvollständige Datenlage ergeben.

Überprüfung notwendig

Das Beispiel Olaratumab zeigt, wie wichtig es ist, dass die geforderten Bestätigungsstudien durchgeführt werden. Gerade bei selteneren Erkrankungen kann dies in der Regel nur durch länderübergreifende Kooperationen gelingen. Zeigt sich in großen kontrollierten Studien kein Nutzen für die Patienten, müssen die Daten offen kommuniziert werden und entsprechende Konsequenzen für die Zulassung folgen.

 



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