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Chronotherapie: Krebsbehandlung nach der inneren Uhr?

Häufige Fragen von Patienten und Angehörigen

Kann die "innere Uhr" die Wirksamkeit der onkologischen Therapie beeinflussen? Immer wieder wird der Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums nach dem Stellenwert einer sogenannten chronomodulierten (Chemo-)Therapie gefragt, abgekürzt meist als "Chronotherapie" bezeichnet. Bei dieser Art der Therapie richtet sich die Gabe der Medikamente nach der inneren Uhr, also nach der zirkadianen Rhythmik. Doch welche Überlegungen liegen diesem Konzept zugrunde? Und wie ist der Stand der Forschung? Gibt es bereits verlässliche wissenschaftliche Daten, die für den Einsatz eines solchen Konzepts im klinischen Alltag sprechen?

Zirkadiane Rhythmik: Welche Rolle spielt sie in der Krebstherapie?

Wecker und Tabletten © Krebsinformationsdienst, Deutsches Krebsforschungszentrum
Die Zusammenhänge zwischen "innerer Uhr" und Krebsbehandlung sind komplex. © Krebsinformationsdienst, Deutsches Krebsforschungszentrum

Körpereigene Taktgeber, unsere "innere Uhr", stimmen viele physiologische Vorgänge auf den Tag-Nacht-Rhythmus, aber auch auf den individuellen zeitlichen Ablauf in der gewohnten Umgebung ab. Diese innere Uhr ist also beispielsweise der Grund dafür, warum es einigen Menschen schwer fällt, sich von der Sommer- auf die Winterzeit umzustellen, oder warum wir nach langen Flügen unter einem Jetlag leiden.

In den letzten Jahrzehnten wurde im Bereich der sogenannten Chronobiologie viel geforscht. Mittlerweile weiß man, dass Störungen der zirkadianen Rhythmik bei der Entstehung von Krankheiten eine Rolle spielen könnten, so auch bei Krebs. Noch fehlen allerdings vergleichsweise viele Details zu den biologischen Vorgängen in der Zelle, die die Entstehung von Tumoren tatsächlich beeinflussen. Wissenschaftler arbeiten daran, diese und weitere Fragen näher zu ergründen. Aktuelle Studien beschäftigen sich unter anderem damit, gestörte zirkadiane Vorgänge medikamentös zu normalisieren.

Ein weiteres Forschungsfeld stellt die Chronotherapie dar, also die Gabe von Medikamenten nach der inneren Uhr. Die Hoffnung für Patienten besteht zum einen darin, durch eine chronomodulierte Gabe die Nebenwirkungen von Medikamenten zu verringern. Damit sollen Therapien besser verträglich werden. Ein weiterer Gedanke: Auch die Wirksamkeit eines Medikaments könnte sich so verbessern lassen, weil höhere Dosierungen möglich werden.

Klinische Forschung: Wie ist der Stand?

Klinische Studien wurden bisher vor allem für Patienten mit Darmkrebs, aber zum Beispiel auch für Patientinnen mit Brustkrebs oder Patienten mit Lungenkrebs durchgeführt. Die Ergebnisse sind uneinheitlich. Sie werfen teilweise sogar neue Fragen auf.

Hier einige Beispiele:

Studien mit Darmkrebspatienten

Im Jahr 1996 wurde eine Chronotherapie erstmals in einer klinischen Studie an zehn europäischen Tumorzentren mit 278 Patienten mit metastasiertem Kolonkarzinom untersucht. Die Studiengruppe der Patienten erhielt das Medikament 5-Fluorouracil um vier Uhr morgens und das Medikament Oxaliplatin um vier Uhr nachmittags. Verglichen wurde diese Therapie nach festgelegten Zeiten mit einer Therapie, bei der die Patienten ihre Medikamente unabhängig von einer genauen Tageszeit bekamen (Kontrollgruppe). Das Ergebnis: Die zu festen Zeiten therapierten Patienten hatten weniger Nebenwirkungen als diejenigen in der Kontrollgruppe. Zusätzlich sprachen die Tumoren der Patienten in der Studiengruppe besser auf die Therapie an (51 % im Vergleich zu 30 %).

In einer weiteren europäischen multizentrischen Studie aus dem Jahr 2006 mit Patienten mit Darmkrebs konnte dagegen mit einer Therapie "nach der Uhr" im Vergleich zur konventionellen Behandlung ohne festgelegte Zeiten keine besseren Ansprechraten beobachtet werden.
Bei der Auswertung der Daten nach Geschlechtern getrennt zeigte sich allerdings ein neuer Aspekt: Chronotherapeutisch behandelte Männer überlebten länger, Frauen dagegen signifikant kürzer.

Diesen Geschlechterunterschied bei Darmkrebspatienten bestätigte auch eine Metaanalyse aus dem Jahre 2013. Beim Vergleich einer konventionellen Chemotherapie mit 5-Fluorouracil, Leucovorin und Oxaliplatin mit einer Chronotherapie mit den gleichen Substanzen verlängerte sich das mediane Gesamtüberleben bei Männern unter Chronotherapie auf 20,8 Monate - verglichen mit 17,5 Monaten nach einer konventioneller Chemotherapie. Bei Frauen dagegen war das mediane Gesamtüberleben unter der chronomodulierten Gabe auf 16,6 Monate verkürzt – verglichen mit 18,4 Monaten nach einer herkömmlichen Chemotherapie.

Studie mit Brustkrebspatientinnen

Die Arbeitsgruppe "Chronotherapie" der European Organisation for Research and Treatment of Cancer (EORTC) untersuchte 2008 bei Patientinnen mit metastasiertem Brustkrebs die Gabe von Vinorelbin zu unterschiedlichen Tageszeiten in Kombination mit einer chronomodulierten Gabe von 5-Fluorouracil nach einem festgelegten Schema. Auch diese Untersuchung war multizentrisch angelegt. Anhand der Ergebnisse konnten die Verantwortlichen jedoch keinen genauen Zeitpunkt bestimmen, zu dem die Gabe von Vinorelbin am wenigsten toxisch war. Die Toxizität der Behandlung wurde stellvertretend anhand des Auftretens einer Neutropenie vom Grad 3/4 beurteilt.
Auch das Auftreten verschiedener weiterer Nebenwirkungen wurde analysiert. Das Problem: Je nach Nebenwirkung wäre die Medikamentengabe zu einem anderen Zeitpunkt sinnvoll gewesen, um die jeweils niedrigste Toxizität zu erreichen. Aufgrund dieser Ergebnisse kamen die Autoren zu dem Ergebnis, dass keine optimale Tageszeit empfohlen werden kann, zu der Vinorelbin gegeben werden sollte.

Weitere Studien wurden entweder mit sehr kleinen Teilnehmerzahlen durchgeführt oder unterliegen anderen Einschränkungen bezüglich der Aussagekraft.

Chronotherapie: Noch viele Fragen offen

Bereits diese vergleichsweise wenigen Studien zeigen, wie komplex die Frage nach dem Stellenwert einer Chronotherapie ist. Viele Zusammenhänge sind noch zu wenig verstanden, um den vorliegenden Studiendaten auch Modelle zu den physiologischen Vorgängen dahinter entgegen stellen zu können. Hinzu kommt die hohe individuelle Variabilität der zirkadianen Rhythmen – jeder hat seine persönliche "innere Uhr".

Studien aus dem Bereich der Grundlagenforschung zeigen zudem, dass der normale Zellzyklus gerade bei Tumorzellen gestört sein kann. Auch der zirkadiane Rhythmus von Patienten kann durch die Erkrankung verändert sein, zum Beispiel durch Schlafstörungen oder die ungewohnte Umgebung bei einem Krankenhausaufenthalt. Dies alles führt dazu, dass es bislang an validen Parametern fehlt, anhand derer sich eine Medikamentengabe auf die jeweils vorliegende zirkadiane Rhythmik abstimmen ließe.

Das Fazit lautet daher zurzeit: Trotz umfangreicher Forschung gibt es noch keine einheitlichen Ergebnisse und auch keine Empfehlungen für eine chronomodulierte Chemotherapie in der klinischen Praxis.





Herausgeber: Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ) │ Autoren/Autorinnen: Fachkreise-Redaktion des Krebsinformationsdienstes. Lesen Sie mehr über die Verantwortlichkeiten in der Redaktion.

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